Man nimmt von jedem ein Stück mit

Wenn ich was während meines sechsmonatigen Auslandsaufenthalt gelernt habe, dann ist es die Tatsache, dann Menschen kommen und gehen. Manche begleiten dich eine Weile, andere streifen deine Geschichte bloß und wieder andere prägen dein Leben.

Das mag jetzt nicht unbedingt nach einer neuen Erkenntnis klingen, aber da steckt noch mehr dahinter: Aus jeder Begegnung nimmt man irgendetwas mit. Nicht immer sind es nennenswerte oder schicksalhafte Zusammenkünfte, das muss es auch gar nicht sein. Im Gegenteil, oft sind es die kleinen Dinge, die plötzlich Erinnerungen an eine Begegnung in mir wecken, die auf den ersten Blick nicht erwähnenswert schien. Doch bei näherer Betrachtung, verbirgt dahinter mehr als man ahnt.

So erging es mir bei Helga, 95 Jahre alt. Eine betagte Frau, deren Geschichten ich lauschen durfte, weil mich unser Bürgermeister auf einen Jubilarbesuch mitnahm. Es waren lediglich eineinhalb Stunden, in denen diese rüstige Dame Teil meines Lebens war, und dennoch: Dieser Abend blieb mir in Erinnerung – und Erinnerung ist hier genau das richtige Stichwort, denn Helga ist völlig klar und liebt es in der Vergangenheit zu schwelgen und von den alten Zeiten zu erzählen. Während ich ihr zuhörte, musste ich immer wieder ungläubig mit dem Kopf schütteln, denn die Fülle an Informationen, gespickt mit Namen und Daten aus einer Zeit, die rund 70 Jahre zurückliegt, beeindruckte mich ungemein.

Spannende und mutige Anekdoten hatte sie zu erzählen, zum Beispiel wie sie einst gemeinsam mit einer Freundin einfach mit dem davonfuhr.  Für ein junges Mädchen der damaligen Zeit war das schon eine enorme Unternehmung. Auf lebendige Weise beschreibt sie die Gastfreundschaft, die damals an jeder Ecke selbstverständlich war, und die Menschen, auf die sie trafen.

Helga ist fit, sie hat jahrelang in einem Büro gearbeitet, hat die Welt gesehen und sich auch nach dem Tod ihres Mannes nicht unterkriegen lassen. Heute erfreut sich an ihren Enkelkindern und trifft sich alle zwei Monate mit ihrer Literaturgruppe. Sie erinnert sich zwar nicht auf Anhieb an den Titel des zuletzt gelesenen Buches, aber dafür erinnert sie sich noch an jede Einzelheit der Zugfahrt, die sie im Dezember 1945 zu ihrem Bruder ins Gefangenenlager in Vorarlberg brachte.

Mag sein, dass es für den ein oder anderen nach einer belanglosen Begegnung klingt. Doch eigentlich ist es doch mit belanglosen Begegnungen wie mit dummen Fragen – es gibt sie nicht. Ich bin dankbar, dass ich Helga eineinhalb Stunden ihres Lebens begleiten durfte, denn sie hinterließ einen tiefen Eindruck bei mir: Vielleicht ist die Art und Weise, wie sie erzählt, wie sie die Geschichten noch mal durchlebt, ihr an der ein oder anderen Stelle ein Lächeln über die Lippen huscht. Vielleicht ist es aber auch die Hoffnung, die sie in mir weckt. Hoffnung auf ein erfülltes, langes, gesundes Leben. Hoffnung darauf, dass es mir auch in hohem Alter noch vergönnt ist, Herr meiner Sinne und in gewissem Maße auch meiner Kräfte zu sein, um zufrieden und gelassen auf ein bewegtes Leben zurückzublicken und meine Geschichten zu teilen.

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