Sekt zu Selters, von Nachtleben zu Netflix

Damals war alles anders, doch war es auch alles besser?

Ella, 23 Studentin. Der Schaum, den Ella von ihrer Hand pustet, wirbelt einmal quer durchs Badezimmer und bleibt dann als weiße Krone knisternd am Sektglas hängen, das mutig auf dem Rand der Badewanne platziert ist. Die Musik dröhnt aus dem Wohnzimmer der Einzimmerwohnung hinüber. Ella trällert mit, nippt am Sekt. Nachdem sie das Glas wieder mutig am nassen Badewannenrand abgestellt hat, checkt sie mit einem Blick auf die Uhr das Zeitmanagement. Noch eine Stunde bis sie losfahren muss. Mädelsabend steht auf dem Programm. Losgelöst, frei, unvoreingenommen, spontan.

Ella zündet sich eine Zigarette. Mittlerweile hat sie die weiche Schaumdecke gegen zwei Handtücher getauscht. Eines um den Körper geschlungen und eines thront als Turban auf ihrem Kopf. Sie zappt sich einmal durch die Musikkanäle bevor sie die Frage nach dem passenden Outfit angeht. Nach einer viertel Stunde liegen die Kleidungsstücke verteilt auf dem Boden, Ella posiert unterdessen vor dem Spiegel und begutachtet sich kritisch, aber zufrieden. Wo war eigentlich das Glas Sekt geblieben?? Zeit für Nachschub. Nur noch ein kleines Schlückchen. Schließlich war sie mit dem Auto unterwegs.

Sekt, Schminke, sorgenfrei…

Es harrte immer noch tapfer auf dem Badewannenrand aus und wurde jetzt in die Küche transportiert und neben dem Ofen abgestellt. Die Tiefkühlpizza war fertig. Ella machte es sich mit ihrer Mahlzeit auf der Couch gemütlich und lies sich von ihrer Lieblingsserie berieseln. Anschließend schlüpfte sie in das bereitgelegte Outfit – Jeansrock, enganliegendes Top, Stiefel. Sie legte Schminke auf, huschte einmal durch die Bude, um das nötigste aufzuräumen. Wer weiß, was der Abend noch bringen würde. Dann wickelt sie den bunten Schal um ihren Hals und schmeißt sich ihren Wintermantel über.

Bis vor fünf Stunden hatte Ella noch keine Pläne und wurde mit Aussicht auf einen Freitagabend zu Hause schon fast nervös. Wie kann man nur brav auf der Couch sitzen, während andere, das Leben feierten und in vollen Zügen genossen. Unbeschwert zog sie los. Die Nacht würde sie mit tanzen, lachen und quatschen verbringen. Sie lebte im Moment, im hier und jetzt.

Ella, 37, Mutter. Es war ein schweres Unterfangen. Drei Anläufe hatte es gebraucht, bis Ella und ihre beiden Freundinnen einen gemeinsamen Termin für einen Mädelsabend gefunden hatten. Mal konnte die eine nicht, mal die andere. Dann war dort ein Kind krank oder hier kam ein Termin dazwischen. Kein Babysitter, keine Zeit, … Eigentlich hatte Ella sich auf diesen Abend gefreut. Immer wieder hatte sie bei jeder eingehenden WhatsApp die Befürchtung, eine ihrer beiden Freundinnen würde am Ende doch noch absagen.

Netflix oder Nachtleben?

Jetzt – zwei Stunden – vor dem Start in einen lang ersehnten Mädelsabend, schaute sie wieder auf ihr Handy. Nichts. Fast schon enttäusch nippte Ella an ihrem Kaffee, während ihr beiden Kinder den Hof mit Kreide verschönerten und lauthals die ihre Aufmerksamkeit forderten. Irgendwie hatte sie keine Motivation, sich aufzubrezeln, geschweige denn aus dem Haus zu gehen. Netflixserien von der heimischen Couch aus erschienen plötzlich viel verlockender. Außerdem musste sie ja ohnehin halblang machen, denn ihre Töchter interessierte es nicht, ob Mama morgen früh nach einer durchtanzten vielleicht eine Extraportion Schlaf brauchen würde. Sie selbst nahm sich nicht die Freiheit nicht, nach einer durchzechten Nacht erst gegen 14 Uhr wieder ins Familienleben zurückzukehren. Naja, was solls. Bestimmt wird der Abend guttun, versuchte sie sich selbst zu motivieren.

Doch bevor es losging, musste sie erst mal den allabendlichen Wahnsinn zelebrieren. Abendessen, Kinder waschen, Zähneputzen, Buch vorlesen… Zwischen all diesen Ritualen versuchte sie das passende Outfit zu finden. „Das sind doof aus“, tönte es aus dem ehrlichen Kindermund ihrer Tochter. Ella hielt inne. Dabei fand sie sich eigentlich ganz schick. Aber wenn sie so recht überlegte, schrie die Bluse ihrem Gegenüber fast ins Gesicht, dass sie was das Nachtleben betraf völlig aus der Übung war.

Ellas Laune war auf Talfahrt. Sie verschob die Modenschau vor dem Spiegel auf später. Einige Salamibrote, unzählige Gurkenscheiben und noch mehr Kinderfragen später, huschte sie für einen zweiten Versuch ins Schlafzimmer zurück. Dann ab ins Bad. „Du siehst aber schön aus“, schwärmte die kleine Kritikerin von vorhin nun. Ella nahm sie in den Arm und wieder überkam sie das Gefühl, eigentlich am liebste zu Hause zu bleiben. Meine Güte, war sie träge geworden! Nein, so geht das nicht. Auf ins Nachtleben, schließlich bin ich nicht nur Mutter, sondern auch Frau. Lidschatten, Wimpertusche, Lippenstift – für all das brauchte Ella sportliche fünf Minuten. Schnelle Gutenachtküsse und zwei flehenden „Mama bleib doch zuhause“-Apelle später, startete Ella ihr Auto.

So wie früher…

Erster Stop, Tankstelle. Nicht für Benzin, sondern für Kippen. So wie früher. Als sie sich die Zigarette anzündete und die Musik aufdrehte, fühlte sie sich fast ein bisschen wie zu Unizeiten. Sie konnte die Unbeschwertheit des vergangenen Jahrzehnts spüren. Jahre, in denen sie nur für sich verantwortlich war. Das war ein Gefühl von Freiheit, ab und an aber auch von Einsamkeit. Sie parkte das Auto in derselben Tiefgarage wie früher.

Als sie auf ihre Freundinnen traf, musste der einen erstmal ein Sabberfleck vom hellen Shirt entfernt und der anderen Handyverbot erteilt werden. Ihr Jüngster hatte kurz vor ihrem Aufbruch erhöhte Temperatur bekommen. Da kommen mit jedem Drink mehr Zweifel, ob Papas Kompetenzen wirklich ausreichen. „Unsere Männer schaffen das locker“, sagte Ella und meinte es auch so.

Die drei versuchen sich zu entspannen und suchen einen Club auf, den sie schon in Studentenzeiten besucht haben. Freundlich werden sie von den Türstehern begrüßt. Der Einlass ist Mitte 30 kein Problem. Drinnen werden sie neugierig beäugt. Ella und ihre Freundinnen erhöhen den Altersdurschnitt. Scheiß drauf. Sie steuern die Bar an. Ella bestellt drei Shots. Doch irgendwie haben die im achten Semester besser geschmeckt. Dennoch Ella fühlt sich nicht wie 37, sie fühlt sich eher wie 27. Aber das tut sie eigentlich immer. Warum kann sie nicht erklären. Sie weiß nur, dass sie bei Begegnungen mit Frauen in ihrem Alter oft nicht glauben kann oder will, dass sie genauso wirken oder aussehen soll wie ihre Gegenüber.

Wo ist die Unbeschwertheit?

Gefühltes Alter hin oder her, Fakt ist, die Handbremse ist angezogen. Statt eines zweiten Cocktails gibt es Wasser zwischendurch, schließlich muss sie auch irgendwie wieder nach Hause kommen. Sie wühlt in ihrer Handtasche und kämpft sich an einem Notfallkinderriegel, eine, Notfallschlüpfer Größe 104 und Relikten einer Plastikfigur aus einem Ü-Ei vorbei und stößt zwischen Kekskrümeln auf ihr Handy. Ein schneller. Nichts. „Ist bei euch alles ok“ schickt sie ihrem Mann. „Logo“ kommt zurück. Eigentlich hat sie auch keinen Zweifel daran.

Doch die Unbeschwertheit von damals will sich nicht einstellen. Sie ist aus der Übung – feierunerfahren. Die meisten Songs, die der DJ auflegt, kennt Ella, dennoch sieht sie sich unsicher um. Tanzende Menschen, ausgelassen, fröhlich. So wie es sein soll. Ella und ihre Freundinnen wagen einen Vorstoß und stürzen sich ins Getümmel. Doch irgendwie war das bei den durchtanzten Nächten früher anders.

Ella lotst ihre Mädels zurück an die Bar. „Sollen wir woanders hin?“ „Ich hab eine Idee“, sagt Ella und hat dabei ein verschwörerisches Funkeln in den Augen. Kurze Zeit später sitzt das Trio an einem Tisch, versorgt mit belgischen Waffeln und ordentlich Eiscreme. Plötzlich fällt die Spannung ab. Ella muss sich an eine köstlich-komische Anekdote erinnern und gibt sie zum Besten. Herzhaftes Lachen erfüllt den Raum. Zwei Männer im mittleren Alter sehen zu Ihnen hinüber und lächeln. Die Bedienung stellt ihnen drei Baileys vor die Nase. „Vom Tisch dort hinten“, erklärt sie. Die beiden Herren prosten Ella und ihren Freundinnen freundlich zu. „Wir können‘s also doch noch Mädels“, sagt Ella und zwinkert ihren Freundinnen zu. Wieder ertönt das herzhafte Lachen der Freundinnen.

Alles hat seine Zeit…

Was für ein perfekter Abend. Nur eben anders als früher. Ella und ihre Freundinnen hatten ihre durchtanzten Nächte, kamen oft genug im Morgengrauen nach Hause, flirtet hier und schwärmten dort. Doch diese Zeit war vorbei. Andere waren nun an der Reihe. Denn alles im Leben hat seine Zeit. Die Erwartungen an diesen Abend waren hoch. Wurden sie erfüllt? Ja, nur auf eine unerwartete Weise.

Als Ella nach Hause kam, war das Familienbett schon gut gefüllt. Sie schlüpfte ins Bett. „Hallo Schatz“, murmelte ihr Mann im Halbschlaf. „Endlich bist du wieder da“. Gleichzeitig drehte sich ein kleines Gesicht schmatzend zu ihr, von der anderen Seite landete eine Kinderhand unsanft in Ellas Gesicht. Sie musste grinsen. Hier war sie genau richtig! Doch an der Tatsache, dass sie sich mit ihren 37 wie 27 fühlt, so kleidet und wahrscheinlich auch hin und wieder so benimmt, wird sich nichts ändern. Ella freut sich jetzt schon auf den nächsten Mädelsabend, bei dem albern gekichert und vielleicht ja sogar getanzt wird.

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