Wenn aus Mücken Elefanten werden

Oder: Kennt jemand eine beruhigende Atemtechnik?

„Es könnt‘ alles so einfach sein, ist es aber nicht“. Das wussten schon die Fantastischen Vier. Es gibt so manchen Tag, da wünsche ich mir einfach die Gelassenheit, diesen Spruch wie ein Mantra vor mich hin zu murmeln. Warum? Um nicht gänzlich zu verzweifeln, wenn mal wieder die vermeintlich einfachsten und alltäglichsten Dinge der Welt für unsere Familie zu kaum überwindbaren Hindernissen werden. Hier ein Beispiel: Wir versuchen das Haus zu verlassen.

„Bitte alle noch mal eine Runde Pippi machen, bevor wir gehen“, töne ich aus voller Brust durchs Haus, nachdem ich mehrfach angekündigt hatte, dass wir im Begriff sind, das Gebäude zu verlassen. Schließlich soll man die Kinder ja nicht einfach so aus dem Spiel reißen, es ist also eine gewisse Vorwarnung von Nöten. Meiner pädagogisch korrekten Ankündigung folgt nun also die von purem Pragmatismus motivierte Aufforderung, den Toilettengang in Angriff zu nehmen. Nicht zur Schikane, wie es meine Damen empfinden, sondern um zu vermeiden, dass sie ihr Geschäft auf halber Strecke in der freien Natur verrichten müssen. Doch meine Mutterwelt wäre nicht meine Mutterwelt, würde meine gute Absicht nicht mal wieder als gemeiner und störender Angriff auf ihre Kinderrechte missverstanden werden. Also ernte ich diverse genervte Kommentare wie „ich muss aber nicht“, „ich kann jetzt nicht“ und natürlich der Allzweck-Klassiker „ich will jetzt nicht.“  Immerhin fühlt sich mein Mann angesprochen und begibt sich in Richtung Badezimmer, Tür zu. Ich atme durch. Tür auf. „Ich wäre soweit“, erklärt er dann erwartungsvoll, als er wieder zurückkehrt. Das freut mich sehr für ihn.

Unterdessen nähern sich mir zwei Wesen, dessen Minen Unheil versprechen. Das eine ist einem mittelschweren Wutanfalle nahe, das andere einer Depression.

Zehn Minuten später.

Der aufwendige und Kräfte raubende Toilettengang ist nun abgeschlossen. Wir nähern uns dem Schuhregal. Noch vor dem Erreichen desselbigen ertönt die immer selbe Frage meiner achtjährigen Tochter, ohne auch nur das Selberdenken in Betracht zu ziehen. „Welche Schuhe soll ich anziehen“. „Schneeboots“, kontere ich fast. „Oh Mama“, quittiert sie meinen anscheinend nicht hilfreichen Vorschlag. „Zieh die Turnschuhe an“, versuche ich es erneut, um meinen guten Willen zu zeigen. „Aber die sollen nicht dreckig werden“, lautet die Antwort auf meinen Vorschlag. „Ok, dann die Wanderschuhe“, dritter Versuch. „Die sind zu warm“. Ich atme durch. „Ich will die Flipflops anziehen“, schlägt sie energisch vor. „Ja, doch macht Sinn, bei einer Wanderung über Stock und Stein“, gebe ich mit ironischem Unterton zu bedenken. Und setze mit dem nun folgenden zwei Worten zum vernichtenden Schlag an: „Entscheide selbst.“ Damit bringe ich sie an den Rand des Wahnsinns. Nur fair, wie ich finde, schließlich, versuche ich seit geraumer Zeit durch besondere Atemtechniken, die sich anbahnende Welle der Verzweiflung weg zu hecheln.

In diesen kleinen Treppendiskurs mischt sich nun auch die jüngste ein, schreiend wohlgemerkt. „Ich will auch Flipflops haben, das ist unfair“, und lässt mit verschränkten Armen, vorgeschobener Unterlippe und einer Stirnfalte, die sie ganz sicher bis zu ihrer Hochzeit zeichnen wird, auf die Stufe fallen. Eine weiter oben schmollt ihre Schwester. Ich stehe im 0,75 Quadratmeter großen Bereich vor der Treppe und blicke auf das Schauspiel, das mir meine beiden Ladys in oscarverdächtiger Manier liefern. Zwei Möglichkeiten bleiben mir: Durchatmen oder losbrüllen.

Ich schiebe den Hund, der wahrscheinlich bald platzt, da längst Zeit für die nächste Gassi-Runde ist, aus dem Weg. Seit ca. 15 Minuten beobachtet unserer Vierbeiner das Spektakel, immer noch schwanzwedelnd. Währenddessen entscheide ich mich für die ruhige Variante. Das verlangt mir unheimlich viel Kraft ab, bestimmt erhöht das meinen Kalorienverbrauch. Ich lasse es mir jedoch nicht nehmen, ein paar moralische Sprüche auszupacken. Sowas wie: „Weißt du, was ich unfair finde? Dass manche Kinder barfuß zur Schule gehen müssen.“ Bääähm, da war sie ,die moralische Keule und die hat gesessen. Auch wenn ich davon ausgehen muss, dass meine 4-Jährige kaum versteht, was ich da von mir gebe. Es folgt eine kurze Sequenz des murrenden Schweigens.  

Ich atme also durch.

Wo ist eigentlich mein Mann? Aus dem Badezimmer hatte er es doch schon geschafft, wieso dann nicht in die Schuhe und vor die Haustür? Ah ja, da kommt er ja schon. Er watschelt die Treppe runter und reiht sich ein. Schnell packt er noch Tabak und Filter ein. Ein letztes Kippchen hat ihn wohl aufgehalten. Ist ja kein Problem. Ich habs ja voll im Griff. „Hast du den Rucksack“, frage ich natürlich rein rhetorisch, denn ich kenne die Antwort längst. „Oh, hab ich vergessen“. „Vergessen“ und „nicht wissen“ sind die meistgebrauchten Verben in diesem Haus. Er joggt die Treppe wieder hoch.

Ich atme durch.

Die Große hat sich mit ihrem Schicksal abgefunden und legt fast so etwas wie Einsicht an den Tag, während sie nach den Turnschuhen greift. An Häuptling „Schmollende Unterlippe“ hat sich, bis auf die Tatsache, dass sie ihrem Unmut nun auch durch leichte Stampfereien auf der Holztreppe Luft macht, nicht viel geändert. „Mama, kann ich die Socken ausziehen.“ Barfuß in Turnschuhe? Nein. „Aber…, es ist so warm“. Ich gebe die Hoffnung auf. Ich atme durch. „Entscheide selbst.“

Wo ist Tom, mein Mann. Wo um Himmels willen holt er denn den Rucksack her?, schießt es durch meinen Kopf. „Habe noch mein Handy gesucht.“ Suchen ist eine unserer Hauptaktivitäten. Nicht nur ein Hobby, eher eine unfreiwillige Passion.

Das erste Kind verlässt das Haus. Der Hund immer noch mit dem Schwanz wedelnd und nichts begreifend wird ebenfalls raus zitiert. Was gleichzeitig Miss Schmollbraten dazu animiert auch nach draußen zu wollen. Das weiß ich jedoch zu verhindern, schließlich ist immer noch nichts außer Socken an ihren Füßen. Eher ungünstig bei 12 Grad Außentemperatur. „Ich darf nicht raus“, und wieder verknoten sich die kleinen Speckärmchen. „Immer sagt ihr nein.“ Hää?? Habe ich gerade etwas gesagt? Ich muss tatsächlich überlegen, bin mir aber ziemlich sicher, dass ich keinen Piep von mir gegeben habe. Ausnahmsweise. Ebenso wenig mein Mann, denn der ist damit beschäftig, die 33 Taschen seiner kurzen Hose im Festivallook abzuklopfen. Ich nehme mal stark an, er ist auf der Suche nach einem Feuerzeug. Ist ja in seiner Welt auch völlig logisch, die 15 Meter von der Haustür bis zum Auto mit einem Zigarettchen überbrücken. Mein Körper reagiert mit nervösen Zuckungen am linken Augenlid. „Es könnt alles so einfach sein, isses aber nicht“, murmele ich rhythmisch vor mich hin und bilde mir ein, wie mir Smudo aufmunternd auf die Schulter klopft.

Ich atme durch.

Mein Mann steht immer noch in der Schlange auf der Treppe und wartet. Das kann er eigentlich ganz gut. Ich lasse ihn passieren. Kurz darauf hat er es nach draußen geschafft und nutzt die Gelegenheit für das Drehen der nächsten Zigarette. Das rechte Augenlied fängt nun ebenfalls an zu zucken. Als ich den Papiermüll vor der Tür entdecke – der schon gestern Abend den Weg in die Mülltonne finden sollte – beschleunigt sich mein Puls leicht. Mein Mann scheint das nicht weiter zu stören.

Ich sammle meine Kräfte und investiere sie in Engelszungen. „Komm, zieh doch die Turnschuhe da an. Schau, Mama hat auch Turnschuhe an.“ „Ich will aber Flipflops.“ „Aber Flipflops sind doch nicht die richtigen Schuhe für eine Wanderung. Wir haben alle Turnschuhe an.“ „Aber ich will auch mal Flipflops haben.“ Es schreit. Ich atme durch, reibe meine Ohrläppchen. Mein Mann raucht.

Es geht weiter. „Wir können ja mal nach Flipflops für dich schauen“, versuche ich es mit letzter Kraft. So muss sich jemand fühlen, der sich nach 10 Kilometer flussaufwärts schwimmend das rettende Ufer erreicht und sich an einem kleinen morschen Ast festklammert. „Ich will aber jetzt welche“. Der Ast bricht. Ich werde von der nächsten Stromschnell wieder flussabwärts getrieben wird. OK. Meine Schläfe pulsiert. Die Tür geht auf. Mein Mann steckt den Kopf durch die Tür. „Kommt ihr?“

Ich schaue ihn an. Er schließt die Tür. Manchmal sagen Blicke mehr als tausend Worte.

Ich atme durch.

Doch es hilft nicht mehr. Ich muss die Droh-Karte ziehen. Ich weiß mir nicht anders zu helfen. „Wenn du die Turnschuhe jetzt nicht sofort anziehst und nicht sofort mit der Motzerei aufhörst, bleibst du zuhause!“ In den nun folgenden Sekunden bete ich, dass sie darauf reinfällt und nicht merkt, dass ich die angedroht Konsequenz niemals umsetzen könnte, ohne mich selbst zu bestrafen. „Na gut, dann zieh ich eben Turnschuhe an.“ Sie tut es, begleitend von bitterlichen Tränen. Tränen über die unfaire Welt, in der sie lebt und die verständnislose Mutter, mit der sie sich Tag für Tag herumschlagen muss. Wir machen uns auf dem Weg zum Auto.

Die Gurte klicken.

Wir atmen durch.

„Können wir Kindermusik hören?“, tönt es von der Rückbank in einem unbeschwerten Ton, geradewegs so, als ob das gerade beendete Szenario nie stattgefunden hätte. Wir schalten das Autoradio ein und erfreuen uns an Rolf Zuckowski: „Januar, Februar, März, April, die Jahresuhr steht niemals still…..!

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