
„Woanders haben die Kinder nichts zu essen und ihr jammert übers Mittagessen.“ Woher kommen nur diese hinkenden Vergleiche, die Generationen überdauern. Sind sie das Spiegelbild eines elterlichen schlechten Gewissens?
Vor einer Weile sah ich ein verstörendes Video über das abgebrannte Lager in Moria. Mütter, die verzweifelt versuchten ihre Kinder zu beruhigen, weil diese sich vor Schmerz – ausgelöst von Tränengas – in ihren Armen wanden. Verstört blieben mein Mann und ich nach diesen Bilder zurück. Wir waren tatsächlich für mehr als einen Moment sprachlos, ja sogar für eine ganze Viertelstunde waren wir entsetzt und fragten uns, in was für eine Welt wir unsere Kinder gesetzt hatten. In eine Welt, in der solche schrecklichen Dinge passieren, von denen jeder weiß, aber nur gegen die nur wenige etwas tun.
Doch: The show must go on
Nachdem unsere wohlbehütenden Gemüter diesen Schock halbwegs verdaut hatten, begaben wir uns zurück auf unsere bequeme Couch, frönten Netflix sowie diversen Snacks. Wir waren zwar noch etwas niedergeschlagen, aber das anfängliche Entsetzen wich bequemer Resignation. Schließlich könne man ja alleine eh nichts ändern, so einer der Gedanken, um das Gewissen nicht zu schwer werden zu lassen so kurz vor dem Staffelfinale unserer momentanen Lieblingsserie. Einem üblichen Fernsehabend stand also nichts mehr Wege. Hin und wieder tauchten einige der grausamen Szenen vorm inneren Auge noch mal auf, aber angesichts des wohlig warmen Ambientes, in dem wir uns allabendlich befinden, war dies auszuhalten.
Auch der Alltag geht seinen gewohnten Gang. Gefüllter Kühlschrank, vollgestopfte Kinderzimmer und Kleiderschränke, Laptop, Handy, Tablet – alles hingenommen als es ob es die selbstverständlichsten Dinge der Welt wären. Wie um Himmels willen ist das mit den kläglichen Versuchen meinerseits vereinbar, unser Leben auf irgendeine Weise bescheiden zu gestalten? Trotz allem Mitleid, das ich für Menschen empfinde, die nicht das Glück hatten in einem freien Land geboren zu werden, in dem man in den meisten Fällen, ein riesiges Portfolio an Möglichkeiten nutzen kann, um sein Leben so zu gestalten, wie man es möchte, reicht mein Mitgefühl scheinbar nicht aus, aktiv etwas zu tun.
Natürlich unterliege auch ich Einschränkungen namens Geld und Zeit, doch keines mangelt dermaßen, dass es mich tatsächlich benachteiligen würde. Zeit ist das Stichwort. Denn neben dem scheinheiligen „Einer-alleine-kann-nichts-ändern-Mantra“ ist der Zeitfaktor eine Ausrede, die immer funktioniert, um sein Gewissen zu beruhigen. Zwei Kinder, Job, Hund und Haushalt – da ist man bestens ausgelastet. Bevor ich da jemand anderem helfe, muss ich mich um in den seltenen Pausen darum bemühen, nicht den Überblick zu verlieren.

Sind es am Ende nur leere Phrasen?
Doch sind wir angesichts unseres Lebensstandards nicht in der Pflicht, anderen zu helfen? Und wenn wir es tuen, ist es dann, um unser Gewissen zu beruhigen, um Anerkennung und Schulterklopfer zu ernten oder wirklich aus dem Drang des Helfen Wollens heraus? Ist der Grund für Engagement überhaupt ausschlaggebend oder reicht es, sich an irgendeiner Stelle einzubringen, ganz gleich warum?
Fakt ist, dass ich meine Kinder zu mitfühlenden und hilfsbereiten Menschen erziehen möchte. Das wird mir mit Sicherheit auch bis zu einem gewissen Grad gelingen, aber wie nachhaltig wird das sein? Irgendwann werden auch meine Töchter durchschauen, dass meine zwar stets gut gemeinten Mahnungen eigentlich nur leere Phrasen sind. Wie könnte es sonst zusammenpassen, dass wir zwar Plätzchen für Obdachlose backen, aber die Krippe unterm Christbaum auch an am letzten Heilig Abend in einem Meer hübsch eingepackten Geschenken unterzugehen drohte. Man könnte fast sagen, dieses Bild der ertrinkenden Krippe ist als ob der Weihnachtsgedanke im Materialismus ersäuft würde.
Überfluss geht mit Überforderung einher
Ein üblicher morgen läuft bei uns solange verhältnismäßig harmonisch ab, bis wir uns zur Haustür begeben und ein Wortgefecht über passendes Schuhwerk, die optimale Wahl der Handschuhe und schlussendlich nach dem passenden Gefährt aufflammt. Da muss man schon mal 20 Minuten Extrazeit einplanen. Meine Damen sind schließlich am frühen morgen nicht entscheidungsfreudig. Es sind ja aber auch problematische Situationen, die es zu lösen gilt.
Da muss man schon Verständnis haben: Die pinken Handschuhe taugen nicht fürs Klettergerüst im Schulhof, die grauen sind irgendwie zu groß und mit den blauen kann man das Pausenbrot nicht anständig essen, so lamentiert meine Große. Währenddessen beschwert sich die Kleine, dass der Prinzessinnenhaarreif auf der Bommelmütze nicht hält und unter der gepunkteten Alternative drückt. Meine Laune nähert sich dem Nullpunkt, was ziemlich schnell geht, da sie vor acht Uhr sowieso kaum darüber hinaus geht. Und schon ist er da, der erste Mutterspruch des Tages: „Andere Kinder haben gar nichts zum anziehen und ihr macht ein Theater, weil euch dies nicht passt und jenes nicht gefällt.“
Die Laune des in Fahrt kommenden Muttertiers wird schlechter und schlechter. Doch nicht nur, weil die Damen über scheinbare Nichtigkeiten motzen, sondern weil ich genau weiß, dass sie eigentlich nichts dafür können. Es liegt schlichtweg daran, dass wir im Überfluss leben. Die Auswahl ist stets zu groß. Und mal ehrlich: Als ob ich selbst zum erstbesten Paar Schuhe greifen würde! Auch ich kann in kindliche Verzweiflung verfallen, wenn der Kleiderschrank mal wieder rein gar nichts Passendes für mich parat hält.

Wie tief wir doch in materiellen Werten verwurzelt sind, zeigt sich immer dann, wenn unsere Kinder mal wieder die Spiegel unserer selbst sind. „Mama, mir ist langweilig. Ich weiß nicht, was ich spielen soll.“ Oh, Steilvorlage für das meckernde Muttertier. „Dein Kinderzimmer ist voll von schönen Spielsachen.“ Folgt dann ein Murren, setz ich noch eins drauf, womit wir beim nächsten elterlichen „Unsatz“ wären: „Andere Kinder haben nichts zu spielen und ihr seid immer so unzufrieden.“ Kaum habe ich diese Worte ausgesprochen, glaube ich meinen Vater in Miniatur auf meiner Schulter sitzen zu haben, der sich vor Lachen kugelt, weil ich tatsächlich die gleiche Strategie anwende wie er. Einer seiner „Unsätze“ lautet damals: „Du hast eine Handyrechnung von 200 Euro und woanders haben die Menschen nix zu essen.“ (Diesen Satz werde ich dank Flatrates nicht brauchen, doch die Kategorie ist dieselbe.)
Die Hoffnung bleibt
Müssten meinen Worten nicht auch Taten folgen? Und wenn ja, welche? Weniger Geschenke? Weniger Shoppen? Doch wem, abgesehen von meinem Gewissen, würde das helfen? Am Ende bleibt es reine Heuchelei. Wir gaukeln uns vor mit eigenem Verzicht, die Welt zu verbessern. Auch wenn die Einstellung zu materiellen Dingen sicherlich die Lebensweise beeinflusst, bleibt die Frage, wie hilft dies anderen?
Zumindest bewirken die unzähligen Fragen, dass man sein Handeln reflektiert und nicht mit Scheuklappen durch die Welt marschiert, als ginge einen Not und Elend nichts an, nur weil man selbst nicht darunter leidet. Doch irgendwann müssen aus der Selbstreflektion Taten entstehen, die, auch wenn sie klein sind und am Ende nicht die Welt retten können, zumindest ein kleiner Mosaikstein im großen Ganzen sein können. Ansonsten wird jede noch so gute Selbsterkenntnis in scheinheiligem Egoismus ersticken.
Vielleicht kommen neben den gut gemeinten immer wiederkehrenden Sätzen, die sich meine Töchter anhören müssen und für die ich mich oft selber schäme, auch der Blick über den eigenen Tellerrand bei meinen Kindern an. Und vielleicht darf ich die Ausrede mit der fehlenden Zeit zumindest noch so lange anführen, bis meine Mädels etwas älter sind. Wenn dann das Gebrauchtwerden ab- und die Zeit für sich selbst zunimmt, dann hoffe ich, es meinen Eltern gleichzutun, die sich heute beide ehrenamtlich engagieren.
Ist am Ende doch was dran an den moralischen Vorträgen, die scheinbar aus eigenem schlechten Gewissen entstandenen sind und elterlichen „Unsätzen“, die Generationen zu überdauern scheinen? Solange bleiben meiner Ansicht nach zwei Dinge: Erstens: Bescheiden und zufrieden zu leben und das an meinen Nachwuchs weiter zu geben. Zweitens: Dankbarkeit und Hochachtung für alle, die sich für andere einsetzen und nicht auf der Suche nach Ausreden sind.s